- Medizinnobelpreis 1969: Max Delbrück — Alfred Day Hershey — Salvador Edward Luria
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Die amerikanischen Wissenschaftler erhielten den Nobelpreis »für ihre Entdeckungen zum Vermehrungsmechanismus und zur genetischen Struktur von Viren«.BiografienMax Delbrück, * Berlin 4. 9. 1906, ✝ Pasadena (Kalifornien) 9. 3. 1981. 1937 Emigration in die USA, ab 1947 Professor für Biologie am California Institute of Technology in Pasadena; Arbeiten über bakterieninfizierende Viren.Alfred Day Hershey, * Lansing (Michigan) 4. 12. 1908, ✝ Syosset (New York) 22. 5. 1997; 1950 Professor für Bakteriologie an der Washington University in St. Louis (Missouri), im gleichen Jahr Wechsel an die genetische Forschungsabteilung des Carnegie-Instituts in Cold Spring Harbour (New York), ab 1962 Leiter dieser Abteilung; Arbeiten über Vermehrung und Genetik von Bakteriophagen.Salvador Luria, * Turin 13. 8. 1912, ✝ Lexington (Massachusetts) 6. 2. 1991; 1940 Emigration in die USA, ab 1943 Professor an verschiedenen Universitäten, ab 1959 Professor für Mikrobiologie und für Biologie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, dort ab 1972 Direktor des Krebsforschungszentrums; Arbeiten über Bakteriophagen und Bakteriengenetik.Würdigung der preisgekrönten LeistungBakteriophagen nennen Wissenschaftler Viren, die Bakterien infizieren. Der deutsch-amerikanische Biochemiker Max Delbrück, der italoamerikanische Mikrobiologe Salvador Luria und der amerikanische Biochemiker Alfred Hershey klärten auf, wie sich diese Viren vermehren und erhielten für diese Leistung den Medizinnobelpreis des Jahres 1969. Mit ihrer Forschung hätten sie grundlegende Probleme der Biologie geklärt, meinte das Nobelpreiskomitee. Damals ahnte jedoch niemand eine rein praktische Anwendung dieser Forschung: Solche Bakteriophagen sind die wahre Ursache der Cholera, einer der schlimmsten Infektionskrankheiten des 20. Jahrhunderts.Als fast ein Vierteljahrhundert später in den 1990er-Jahren die Cholera vermutlich im Ballastwasser eines Schiffs die stürmische Pazifikküste Südamerikas erreichte und eine riesige Epidemie auslöste, identifizierten die Medien den Übeltäter sofort: Ein Bakterium namens Vibrio cholerae löst die Krankheit aus. Das ist aber nur die Hälfte der Wahrheit. Denn einmal liegt die wahre Ursache im hygienischen Umfeld der Betroffenen. Ist beispielsweise das Trinkwasser mit Fäkalien verseucht und befinden sich in den Ausscheidungen Bakterien der Art Vibrio cholerae, können sie sich explosionsartig ausbreiten. Verhindert die Armut eine zuverlässige Versorgung mit hygienisch unbedenklichem Trinkwasser, kann also eine Choleraepidemie entstehen. Deren Ursache aber ist nicht etwa das Bakterium Vibrio cholerae selbst, sondern ein Bakteriophage, wie ihn die drei Medizinnobelpreisträger des Jahres 1969 beschrieben haben. Wenn dieses Virus ein Cholerabakterium infiziert, trägt es gleichzeitig das Gift hinein, das beim Menschen die Darmkrankheiten erzeugt. Durchfall trocknet die Betroffenen dann völlig aus. Wird der Flüssigkeitsverlust nicht rasch ausgeglichen, führt er zum Tod. Das ist in den armen Ländern mit schlechten hygienischen Bedingungen meist die Ursache für die hohen Todesraten bei Choleraepidemien.Experimente mit SchnellläufernMax Delbrück, Alfred Hershey und Salvador Luria kannten solche Zusammenhänge natürlich nicht, als sie begannen, die Vermehrung von Viren zu untersuchen. In Tieren und Pflanzen dauert es oft Tage, bis sich die Erreger einmal vermehren. Bakteriophagen aber schaffen das Gleiche oft bereits in wenigen Minuten. Solche Schnellläufer bieten sich an, wenn man Experimente mit Viren macht, die man selbst nur schwer beobachten kann. So erhält man viele Ereignisse gleichzeitig und kann daher auch mit den Methoden der Statistik arbeiten. Obendrein befällt ein Bakteriophage eine einzelne Zelle, die sich relativ einfach studieren lässt. Ein Humanvirus dagegen infiziert einen Menschen mit vielen Millionen Zellen, was das nachfolgende Geschehen sehr unübersichtlich macht. Bei ihren Experimenten mit Bakteriophagen stießen die drei in Amerika arbeitenden Forscher daher rasch auf grundlegende Tatsachen, die sich heute in allen Lehrbüchern der Medizin und der Virologie finden.Die Geschichte vom geborgten LebenIm Prinzip besteht jedes Virus aus einer Nucleinsäure, die von einer Hülle aus Proteinen umgeben und geschützt wird. Die Nucleinsäure trägt die Erbinformation des Erregers. Zusätzlich zu den Hüllproteinen kann das Virus weitere Proteine besitzen, die ihm bestimmte Eigenschaften verleihen. Nur eine Eigenschaft hat ein Virus nie: Es kann sich nie aus eigener Kraft vermehren. Dazu benötigt es immer die Hilfe einer lebenden Zelle, die in der Sprache der Virologen und Mikrobiologen der Wirt des Erregers genannt wird. Die »Geschichte vom geborgten Leben« nennen Virologen ihre Wissenschaft, weil sich das Virus sein Leben sozusagen von anderen Organismen ausleiht.Zu den zusätzlichen Eigenschaften eines Virus gehört zum Beispiel ein Mechanismus, der zu Beginn der Infektion die Virus-Erbinformation in die Wirtszelle hineinschießt. Damit war bewiesen, dass auch in Viren das Erbgut DNA die genetischen Informationen trägt. Nach der Infektion ändern sich Virus und befallene Zelle dramatisch: Aus beiden Partikeln entsteht ein völlig neues Gebilde, das Virologen Zell-Virus-Komplex nennen. Darin verschwinden das Virus und seine Strukturen völlig, während gleichzeitig das Viruserbgut viele Aktivitäten der Zelle völlig umprogrammiert. Statt dem Wohl der Zelle zu dienen, werden die Gene des Wirtes nun »zweckentfremdet« und helfen mit, neue Viruspartikel zu produzieren. Bakteriophagen verändern Bakterien so, dass sie innerhalb weniger Minuten einige Hundert neuer Viren herstellen.Infizieren zwei unterschiedliche Bakteriophagen gleichzeitig dasselbe Bakterium, tauschen beide Erreger manchmal Teile ihres Erbguts miteinander aus. Dieser Mechanismus ermöglichte es Max Delbrück, Salvador Luria und Alfred Hershey, die Struktur des Viruserbguts genauer zu untersuchen: Da sich bei diesen Neukombinationen bisweilen verschiedene Eigenschaften des Virus ändern, muss dieses auch verschiedene Erbinformationen besitzen, die Molekularbiologen als Gene kennen.Bei Bakteriophagen lassen sich solche Eigenschaften relativ leicht beobachten, da sich diese Viren sehr rasch vermehren. Daher dienten sie als Modelle für andere Viren, die sich schwieriger untersuchen lassen, weil sie sich zum Beispiel in Menschen oder Tieren erheblich langsamer vermehren. Tatsächlich bestätigten Experimente in den Folgejahren, dass sich viele der zunächst an Bakteriophagen entdeckten Eigenschaften auch bei anderen Viren finden. Die Forschung von Max Delbrück, Salvador Luria und Alfred Hershey hat daher tatsächlich einen tiefen Einblick in das Geschehen gegeben, das bei Virusinfektionen abläuft. Aus diesem Wissen wiederum resultieren etliche Methoden, mit denen Virusinfektionen besser als früher bekämpft werden können.R. Knauer, K. Viering
Universal-Lexikon. 2012.